Ein großer Europäer
Die Idee für die Stiftung Ettersberg hatte ein passionierter Europäer: der spanische Schriftsteller Jorge Semprún.
Anfang der 1940er Jahre kämpft Semprún als Student in der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer und wird 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Dort wird der 20-Jährige zum Häftling Nummer 44904. Er wird verhört, gefoltert und verbringt 15 Monate im Lager. Als überzeugter Kommunist erhält Semprún einen Posten im Kommando Arbeitsstatistik, was ihm vermutlich das Leben rettet, weil er so von den lebensgefährlichen Arbeitseinsätzen verschont bleibt.
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald durch die US-amerikanische Armee kehrt Jorge Semprún in seine Wahlheimat Frankreich zurück. Hier schließt er sich der Exilorganisation der Kommunistischen Partei Spaniens (Partido Comunista de España, PCE) an. Schnell steigt er dort auch aufgrund seines schriftstellerischen Talents bis in die höchste Ebene, das Politbüro, auf. Im Auftrag der Partei kehrt der gebürtige Spanier mehrmals unter falschem Namen in seine Heimat zurück. In seiner Geburtsstadt Madrid ist er Dreh- und Angelpunkt der kommunistischen Opposition gegen das Franco-Regime.
Eigentlich ein überzeugter Kommunist, beginnt bei Jorge Semprún nach dem Tode Stalins 1953 und der Entstalinisierung in der Sowjetunion 1956 ein Prozess der Entfremdung. Die PCE folgt als Partei zwar dieser Linie, jedoch bleibt die notwendige Demokratisierung in den Augen Semprúns unvollendet. Um den Franquismus zu besiegen, ist ein breites parlamentarisch-demokratisches Oppositionsbündnis für ihn zum Mittel der Wahl geworden. Infolge seiner oft unangepassten und pragmatischen Einstellung eckt Semprún zusehend im Politbüro der PCE an. Als er durch die Literatur von Alexander Solschenizyn von der Existenz des GULag, dem System der sowjetischen Zwangsarbeitslager erfährt, fällt er in eine tiefe Sinnkrise und bricht mit seiner kommunistischen Haltung. Schließlich wird Jorge Semprún im Jahr 1964 wegen »ideologischer Abweichung« aus der Kommunistischen Partei Spaniens ausgeschlossen.
»An jenem Tag war es noch Herbst. Ein rötliches Licht übersprühte den Wald des Ettersberg. (…) Sie kommen langsam herbei. Mit kleinen Schritten, sich manchmal gegenseitig oder auf behelfsmäßig zusammengebastelte Stöcke und Krücken stützend, in einem hinkenden, verlangsamten, aber hartnäckigen Trippeln kommen sie herbei. (…) Sie kamen jeden Sonntag nach dem Appell. Bei jedem Wetter. Die Gemeinschaftslatrinen des Kleinen Lagers waren ihr Treffpunkt, ihr Ort des Austausch, des Palavers, der Freiheit. Basar der Erinnerungen, auch Tauschbörse, im stinkenden Dunst der Abortgrube. (…) Es war eine Holzbaracke von ähnlichen Ausmaßen wie alle in Buchenwald. Aber der verfügbare Raum hatte keine Zwischenwände. (…) Hier durchzog eine zementierte Abortgrube, in der unaufhörlich ein Wasserrinnsal floß, das Gebäude fast in seiner gesamten Länge. Ein dicker, grob behauener Balken befand sich über der Grube und diente als Sitz. (…) Gewöhnlich entleerten sich Dutzende von Deportieren zur gleichen Zeit, in dem für die Örtlichkeit charakteristischen Pestgestank. (…) Die roten Kapos von Buchenwald mieden das Latrinengebäude, (…) das „Waschhaus der Krieger und Krüppel“, die Anhäufung ausgemergelter, mit Geschwüren, unförmigen Lumpen bedeckter Körper, die aus den Höhlen tretenden Augen in den grauen, von furchtbaren Schmerz verwüsteten Gesichtern. (…) Auch die SS-Leute mieden die Latrinen. Es war der einzige Ort in Buchenwald, der sich ihrer Macht entzog (…), so daß sie daraus, zweifellos unfreiwillig, einen Ort der Zuflucht und der Freiheit gemacht hatten.«
Aus »Der Tote mit meinem Namen«, Erinnerungen an Buchenwald
von Jorge Semprún, *1923, † 2011
Erinnern und Schreiben gegen das Vergessen
Jorge Semprún war ein von den politischen Extremen des 20. Jahrhunderts Getriebener und Gezeichneter. In seinem literarischen Werk schreibt er immer wieder über sein Leben und Überleben in Buchenwald und spricht sich stets gegen jede Form politischer Gewaltherrschaft aus. 1994 erhält er für sein Lebenswerk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei seiner Dankesrede regt er die Gründung einer Institution in Deutschland an, welche die Erinnerung an die Schrecken vergangener Diktaturen wachhält und die Demokratie in Europa stärkt. Die Idee für die Stiftung Ettersberg ist geboren.
»Ich weiß nicht, welche Pläne die politische und intellektuelle Gemeinschaft Deutschlands hat, was den historischen Raum von Buchenwald betrifft. Es wäre schön (…), wenn der Hügel des Ettersbergs Sitz einer europäischen Institution wäre, die sich dieser Gedächtnisarbeit und dieser demokratischen Weiterentwicklung verpflichten würde.«
Offiziell gegründet wurde die Stiftung Ettersberg 1999. Unseren Hauptsitz haben wir in Weimar. Die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, die seit 2012 zur Stiftung gehört, befindet sich in der Andreasstraße im Zentrum von Erfurt, gleich neben dem Domplatz. Auch die ›Andreasstraße‹ ist ein geschichtsträchtiger Ort. Er bringt zwei scheinbar gegensätzliche Themen zusammen: Unterdrückung und Befreiung. Während der SED-Diktatur werden in der dortigen Untersuchungshaftanstalt – im Volksmund die ›Andreasstraße‹ – rund 5.500 politisch Andersdenkende in Untersuchungshaft genommen. Während der friedlichen Demonstrationen 1989 besetzen mutige Erfurter*innen diesen Ort der Unterdrückung, um die bereits begonnene Vernichtung von Stasi-Akten zu stoppen. Sie schließen sämtliche Akten, die sie noch finden können, in den zahlreichen kleinen Haftzellen ein. Dieser friedliche Befreiungsschlag ereignet sich am 4. Dezember 1989. Es ist die erste Besetzung einer Stasi-Zentrale in Deutschland. Ihr werden weitere Besetzungen in anderen Städten folgen.